Der Wiener Jakob Brossmann hat für seine Doku Lampedusa im Winter die Insel besucht, auf der viele Flüchtlinge mit dem Ziel EU landen. Das Thema Flucht ist dort stets präsent, ist aber nicht alles, was diese Insel ausmacht.

UNIMAG: Lampedusa im Winter. Das ist sowohl Titel als auch Handlungsort und -zeit. Warum diese Eingrenzung?

Brossmann: Ich wollte Lampedusa unbedingt kennen lernen. Das ist mit Sicherheit der Ort, der über die Jahre am intensivsten mit Flucht und Migration konfrontiert war – weltweit. Für den Winter habe ich mich entschieden, weil er eine Zeit der Reflektion ist. Eine Periode, wo die Insel auf sich selbst zurückgeworfen wird. Wo man sich abseits der aktuellen Krise mit den größeren Fragen befassen kann. Was auf Lampedusa im Winter auch fehlt, ist die Notwendigkeit, mit Tourismus Geld zu verdienen. Im Sommer gibt es sehr viel mehr Aufregung auf der Insel. Im Winter gibt es einen anderen Zugang zu den Menschen und den Fragen, die sie beschäftigen. Da mir die Menschen besonders wichtig sind, habe ich beschlossen, im Winter zu drehen, weil ich da ganz anders mit ihnen in Kontakt kommen konnte.

Der Name Lampedusa steht in der öffentlichen Wahrnehmung für das Flüchtlingsproblem, schreckliche Tragödien auf dem Meer und das Versagen Europas. Wie hast du die Insel während der Dreharbeiten wahrgenommen?

Es ist diese einsame, kleine Insel mitten im Meer. Die etwa 5.000 Einwohner kämpfen mit ihren großen Problemen, werden aber abseits der Flüchtlingsproblematik kaum wahrgenommen. Gleichzeitig sieht man, dass die Lampedusani mit ihrer Überforderung und ihrer Hilflosigkeit gegenüber dem Vorgehen der europäischen Politik auch durchaus beeindruckende Umgangsmöglichkeiten gefunden haben. Individuell und auch als Gruppe finden sie Möglichkeiten, damit umzugehen. Man sieht durch die vielen Tragödien stark traumatisierte Menschen, die sich aber trotzdem wieder aufraffen: zu Menschlichkeit, zu Begegnung. Menschen, die sich dort einsetzen, wo Staat und Institutionen scheitern.

Die Flüchtlinge sind natürlich ein Fokus des Films. Andererseits lernt man auch andere Aspekte der Insel kennen: Den Fußballverein, den Radiosender und den Konflikt der Fischer mit der Fährgesellschaft. Gibt es ein Leben abseits der Flüchtlingsproblematik?

Es gibt eine Insel und ein Leben abseits der Tragödien. Das hat bei aller Trauer und Wut, die es hier gibt, auch etwas Tröstliches. Es gibt ein Leben abseits des Scheiterns der Politik und es gibt auch ein Leben damit. Man sieht, dass das ganz normale Leben nicht mit der Ankunft von ein paar hunderttausend Flüchtlingen endet. Selbst wenn es in Österreich nur annähernd so viele wären, bräuchte man sich nicht zu fürchten. Lampedusa ist ein Ort, der so viel stärker betroffen ist als Österreich und auch da geht das Leben weiter.

Mir war das wichtig, denn für uns in Europa bleiben ja auch im Kontext der Herausforderung der Flucht und der Migration andere Fragen wichtig: Wie gehen wir als EuropäerInnen miteinander um? Das ist auch ein wichtiger Aspekt von Lampedusa. Die Lampedusani haben es geschafft, diese Dinge nicht gegeneinander auszuspielen. Sie sagen nicht: „Flüchtlinge können wir jetzt nicht aufnehmen, weil wir ein Fährproblem haben!“ oder „Wir können dieses Fährproblem jetzt nicht angehen, weil wir so viele Flüchtlinge haben.“  Wir müssen als EuropäerInnen lernen, mehrere Problemfelder gleichzeitig zu denken. Wir dürfen nicht glauben, dass sich Lösungsansätze bei unterschiedlichen Fragen gegenseitig ausschließen. Auch wenn das mediale Bewusstsein nicht allzu viele Problemfelder gleichzeitig erfassen kann, müssen wir es als Menschen lernen. Wir müssen parallel an Problemen und Lösungen arbeiten können und sie nicht gegeneinander in Stellung bringen. Das ist die Strategie, welche die rechte Seite seit Jahrzehnten verfolgt. „Wir können keine Flüchtlinge aufnehmen, weil wir so eine hohe Arbeitslosigkeit haben.“ Das hat mich auf Lampedusa beeindruckt: Diese „Gleichzeitigkeit“ wird dort versucht – weil sie versucht werden muss. Das schaffen sie mit einer großen Menschlichkeit. Insofern gibt es auf Lampedusa ein „Leben abseits der Flüchtlingsproblematik“. Es gibt auch eine große Lebensfreude, aber diese halte ich nicht für ein ‚Abseits‘ sondern immer auch für ein ‚gerade deshalb‘. Wir sind dafür verantwortlich, eine Gesellschaft zu gestalten, die in der Lage ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Insofern ist die Miteinbeziehung der EuropäerInnen in das Thema der Flucht essentiell. Ohne die aufnehmende Gesellschaft kann es keine Aufnahme geben.

Und diese Gleichzeitigkeit der Problembetrachtung fehlt in Österreich?

Nein, eigentlich nicht. In der Realität bemühen sich die EuropäerInnen – oft zivilgesellschaftlich – an vielen Fronten gleichzeitig. Aber im öffentlichen und politischen Diskurs wird das kaum repräsentiert. Es ist ja auch schwer zu überblicken. Deswegen hab ich mich auch für Lampedusa interessiert, weil hier in einem ganz kleinen Rahmen Fragestellungen verhandelbar werden, die für ganz Europa eine Rolle spielen.

Die Dreharbeiten begannen bereits 2013, die Recherche ein Jahr früher. Wie nah kommt man in diesem Zeitraum den Menschen auf der Insel?

Es sind ja hunderte, tausende JournalistInnen, die über diese Insel hinweg fegen. Wir haben uns Zeit gelassen, den Leuten zugehört – die Lampedusani haben unsere Neugierde erwidert, und das Vertrauen, das wir ihnen entgegen gebracht haben. Ich habe auf diese Weise Menschen kennen gelernt, die mir sehr ans Herz gewachsen sind. Es ist ein gegenseitiges Vertrauen, das die Grundlage für so eine Arbeit sein muss. Wenn man sich nicht die Zeit lassen kann, wird man viele Szenen so nicht drehen können.

Eine Frage, die zur Zeit gestellt werden muss: Was ist der Fehler der europäischen Flüchtlingspolitik?

An allererster Stelle muss ich natürlich die Forderung nach sicheren Routen stellen. Es ist ein zynischer Umstand, dass man sein Leben riskieren muss, um ein verbrieftes Menschenrecht (das Asylrecht, Anm. d. Red.) erbitten zu können. Vor nicht allzu langer Zeit konnten Verfolgte weltweit in einer europäischen Botschaft um Asyl bitten, um ihr Leben zu retten. Heute müssen sie dafür auf einer gefährlichen Reise ihr Leben riskieren und unzählige Gesetze brechen. Das ist menschenunwürdig und eine Verhöhnung der Menschenrechts- und Flüchtlingskonvention. Zum Glück hat sich da im vergangenen halben Jahr im Diskurs auch was geändert. Diese Forderung gab es recht exklusiv in gewissen linken Kreisen. Sie hat sich jetzt im öffentlichen Diskurs auch deutlich breiter gemacht.

Das zweite große Problem der europäischen Flüchtlingspolitik kommt aus dem alltäglichen Leben. Man erklärt die gelungene Integration zu einer Art Ausnahmeerscheinung. Man hält die Willkommenskultur für die Ausnahme. Es gibt anscheinend auf politischer Seite eine Grundannahme der eigenen Bevölkerung gegenüber: dass diese xenophob, rassistisch, verängstigt und überfordert sei. Das ist ein bisschen eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wenn die Politik aufhören würde, ihre eigene Angst und Überforderung zur Schau zu stellen und mit Zeichen der Großzügigkeit und Menschlichkeit agieren würde, wie es zum Beispiel die ÖBB in den letzten Wochen gemacht hat, dann würde sich auch in der Stimmung der Gesamtgesellschaft etwas ändern. Dann ist die „Bewältigung“ – also die Aufnahme von ein paar hunderttausend Flüchtlingen in Österreich – überhaupt kein Problem. Man hat das gesehen mit den Flüchtlingen der Ungarnkrise. Das war zu Zeiten, in denen Österreich wirtschaftlich weitaus schlechter da stand, überhaupt kein Problem. Die Aufnahmekapazitäten sind ja nirgendwo festgeschrieben. Nirgendwo steht wir können 90.000 oder 190.000 Flüchtlinge aufnehmen – das ist ja keine feste Größe. Das ist eine Frage der gesellschaftlichen Willensbildung und der Bereitschaft, als Mensch Menschen zu helfen. In dem Moment, in dem Europa, die europäischen Städte und Gemeinden ihren Beitrag leisten, würde sich auch die Situation in den Nachbarländern der Krisenregionen bessern, wodurch auch der Krise Zündstoff genommen und sich die Situation in den Flüchtlingslagern weltweit auch entschärfen würde. Somit würde auch der sogenannte „Migrationsdruck“ nachlassen.

Ihr feiert mit Lampedusa im Winter eure Österreich Premiere auf der Viennale. Direkt der große Wurf, wie fühlt sich das an?

Es war ein lang gehegter Traum und wir haben nicht damit gerechnet erst in Locarno (Festival del film Locarno, Anm. d. Red.) und dann auf der Viennale laufen zu können. Die Reise des Films ist damit auch noch nicht vorbei. Mit dem Kinostart in Österreich sind für uns große Hoffnungen verbunden. Das ist nicht selbstverständlich und noch dazu mit einem etwas ungewöhnlichen Film, der auch nicht unbedingt die erwarteten Perspektiven einnimmt. Wir hoffen, dass der Film mit seinen Botschaften sein Publikum finden wird.

Was wäre denn die Botschaft des Films?

Ich kann das schwer zusammenfassen. Aber ich versuche es: Man muss eine Form der Solidarität finden, die uns EuropäerInnen und die Ankommenden in einem Bild vereint. Es ist ein Film darüber, wie die Ränder Europas mit den Problemen alleine gelassen werden – und darüber, wie gelebte Solidarität und menschliche Begegnung eine Antworten darauf sein könnten.

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